Konzept

Kurzkonzept der Housing First-Projektpartnerschaft

Historie und Ausgangslage

Anfang der 90er Jahre in den USA entwickelt, wird Housing First inzwischen in zahlreichen Ländern erfolgreich zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit eingesetzt.
Grundgedanke ist ein „Recht auf Wohnen“ ohne Vorbedingungen. Im Gegensatz zu herkömmlichen betreuten Wohnformen setzt Housing First für das Beziehen der eigenen Wohnung keine Bewährung in stufenweise vorangehenden Hilfemaßnahmen und auch keine Bereitschaft zu Abstinenz, Therapie, beruflicher Eingliederung oder anderen vereinbarten Hilfezielen voraus. Menschen aus der Zielgruppe erhalten eine Wohnung mit eigenem Mietvertrag. Parallel dazu werden auf freiwilliger Basis Angebote zur individuellen Unterstützung und zur Anbindung an andere verfügbare Unterstützungssysteme bereitgestellt. 
Housing First arbeitet mit der Erfüllung des Grundbedürfnisses nach einem sicheren Zuhause, das die Basis für eine Regeneration der Selbsthilfekräfte und die Aktivierung der vorhandenen Ressourcen darstellt. Zielgruppe sind vor allem langjährig wohnungslose Menschen mit komplexen psychischen Problemen und Suchterkrankungen. Sie scheitern regelmäßig in den herkömmlichen Stufen-Hilfeangeboten (z.B., weil sie nicht dauerhaft an anspruchsvollen Hilfezielen jenseits des Wohnens mitwirken können) oder fallen durch die Schnittstellen der Hilfesysteme. Über die Nutzung dieser niedrigschwelligen Hilfesysteme hinaus verursachen sie hohe gesellschaftliche Kosten, u.a. durch medizinische und polizeiliche Notfalleinsätze, durch Aufenthalte in Krankenhäusern, Psychiatrie, Strafvollzug und stationären Einrichtungen (s. Gladwell, 2006).
Mittlerweile sind die positiven Wirkungen des Ansatzes in zahlreichen Evaluationen nachgewiesen. In umfangreichen Untersuchungen konnte bei 80 bis über 90 % aller Fälle das Hauptziel des dauerhaften Wohnungserhalts erreicht werden (Projekte in Amsterdam, Glasgow, Kopenhagen und Lissabon), dazu zeigten sich in den meisten Fällen positive Entwicklungen bei psychischen Erkrankungen sowie Drogenmissbrauch und eine deutliche Verbesserung der persönlichen Lebensqualität (s. Busch-Geertsema, 2013). Der „Housing First Guide Europe“ konstatierte 2016 ähnlich hohe Quoten der dauerhaften Beendigung von Wohnungslosigkeit z. B. für Projekte in Norwegen (93 %), Schweden (84 %) und Österreich (98,3 %) (s. Pleace, 2016).

Das Sozialamt der Stadt Nürnberg hat mit seinem Modell der „Sozialimmobilie“ bereits 1997 einen Schritt in Richtung Housing First getan. Die Bewohner*innen  der Sozialimmobilien haben eigene Mietverträge mit den Vermieter*innen abgeschlossen und sind somit per Definition nicht mehr obdachlos. Die Sozialimmobilien unterscheiden sich jedoch von „normalen“ Mietwohnungen durch die Tatsache, dass es sich in der Regel um geförderten Wohnraum mit zusätzlichen Leistungen des Sozialamtes wie Mietausfallgarantie und Renovierungspauschale handelt. 

Der nächste Schritt im Sinne des „Rechts auf Wohnen“ ohne Vorbedingungen wäre nun selbstbestimmtes Wohnen in einer (Privat-)Wohnung ohne Garantien. Dazu haben sich mehrere Träger zusammengeschlossen und möchten in Kooperation mit dem Sozialamt den nächsten Schritt gehen – Housing First: endlich wieder richtig wohnen. 


Housing First in Nürnberg

Träger, deren Zielgruppen viele wohnungslose Menschen mit besonders schwerwiegenden Problemlagen aufweisen, (derzeit Lilith e.V., Straßenkreuzer e.V., Hängematte e.V. und mudra e.V.) streben in Nürnberg zum 01.08.2022 ein Projekt zur Erprobung des Housing First-Konzepts an. Die Erfahrungen aus vielen Ländern und mittlerweile auch aus anderen Städten in Deutschland machen uns Mut, diesen Ansatz als sinnvolle Ergänzung des bestehenden Hilfesystems zu etablieren. Die Verantwortlichkeiten und Strukturen dieser Projektpartnerschaft werden in einer verbindlichen Vereinbarung geregelt. Eine enge Zusammenarbeit mit dem Sozialamt der Stadt Nürnberg, aber auch anderen Akteuren der Wohnungslosenhilfe ist für eine erfolgreiche Durchführung unerlässlich. Darüber hinaus soll intensiv mit anderen Projekten und Organisationen, die mit Housing First befasst sind, kooperiert werden.

 
Ziele

Grundlegende Zielsetzung auf Ebene der Betroffenen ist es, den Teilnehmenden durch die unmittelbare Anmietung und die dauerhafte Erhaltung einer eigenen Wohnung eine Beendigung der Wohnungslosigkeit zu ermöglichen, sie auf dieser Grundlage dabei zu unterstützen, ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben zu führen und ihre persönlichen Ressourcen und Kompetenzen zu mobilisieren.

  • Institutionellen und privaten Vermieter*innen soll es durch die angebotene Unterstützung seitens des Projekts und entsprechender Öffentlichkeitsarbeit ermöglicht werden, Vorurteile gegenüber der Zielgruppe abzubauen und damit die Akquise von geeignetem Wohnraum zu unterstützen
  • Die intensive Betreuung der Zielgruppe, die in bestehende Angebote der Wohnungslosenhilfe nur schwer integriert werden kann, sorgt für die Entlastung dieser Einrichtungen und Institutionen
  • Ordnungsrechtliche Unterbringung wird entlastet und mit dauerhaften Mietverhältnissen Obdachlosigkeit beendet
 
Zielgruppe

Zielgruppe des Projektes sind erwachsene wohnungslose Menschen unabhängig von Geschlechtsidentität und nationaler, ethnischer, religiöser und kultureller Herkunft, die multiple Problemlagen aufweisen.
Eine Frauenquote von mindestens 25% wird angestrebt. Die Klient*innen der Projektpartner*innen werden paritätisch berücksichtigt. Der Schwerpunkt liegt bei der Vermittlung von Personen, die nicht von Regelangeboten erreicht werden (z.B. Aufenthalt auf der Straße) oder ordnungsrechtlich untergebracht sind (z.B. Obdachlosenpensionen und Notschlafstellen).

 
Struktur & Umfang der Leistungen
  • Akquise und Vermittlung von Wohnungen zur Anmietung; 
  • Akquise, Aufnahme der Teilnehmenden; 
  • Anbahnung der Mietverhältnisse; 
  • Gewährleistung des begleitenden Unterstützungsangebotes für die Teilnehmenden; 
  • gegenseitiger Informationsaustausch mit den Vermieter*innen.
 
Housing First – Job Second

Für interessierte Teilnehmer*innen können bei Eignung Arbeitsplätze und Beschäftigungsangebote bereitgestellt werden. Im Rahmen der Projektpartnerschaft sind verschiedene Angebote existent, die von niedrigschwelligen Zuverdienstmöglichkeiten (z.B. Hefteverkauf beim Straßenkreuzer oder Tagesjobs bei mudra) über diverse, auch genderspezifische Maßnahmen wie bei Lilith bis zu längerfristigen Anstellungen reichen, selbstverständlich auf freiwilliger Basis und bei Beendigung ohne Auswirkung auf die anderen Bereiche der Housing First-Betreuung.

 
Aufnahmeverfahren

Jeder wohnungslose Mensch kann sich für die Teilnahme am Projekt Housing First Nürnberg bewerben. Durch gezielte Vernetzung mit den niedrigschwelligen Angeboten der Wohnungslosenhilfe (z. B. Streetwork, Beratungsstellen, Tagesstätten, Notunterkünfte) werden vielfältige Zugänge gewährleistet. Wenn eine grundsätzliche Zugehörigkeit zur Zielgruppe vorliegt, wird der/die mögliche Teilnehmer*in zu einem Beratungsgespräch eingeladen. Das Gespräch wird i.d.R. mit zwei Mitarbeitenden durchgeführt. Soweit mit einer Warteliste gearbeitet wird, soll diese so begrenzt werden, dass alle Wartenden absehbar auch das Aufnahmeverfahren absolvieren können.

 
Wohnraumvermittlung

Das Projekt akquiriert für die Teilnehmer*innen Wohnraum auf dem Wohnungsmarkt. Die Anmietung erfolgt durch die Mieter*innen in Form üblicher Hauptmietverhältnisse. Die Mieter*innen werden vom Housing First-Team ausgewählt und den Vermieter*innen vorgestellt. Die individuelle Finanzierung von Miet- und Nebenkosten erfolgt über die Mieter*innen. Die Mieter*innen stimmen einem direkten Kontakt zwischen Projekt und Hausverwaltung zu. 

Für Vermieter*innen bedeutet dies insbesondere: 

  • sie erhalten die Kautions- und Mietzahlungen durch direkte Überweisung des Transferleistungsträgers (in der Regel Jobcenter oder Sozialämter),
  • sie haben die Zusicherung, dass die Mieter*innen über Haftpflichtversicherungen verfügen,
  • sie haben für alle Belange eine/n direkte/n Ansprechpartner*in beim Projekt,
  • im Falle von Problemen werden die Mitarbeiter*innen unmittelbar aktiv, um die Probleme vor Ort zu lösen.

Hinsichtlich der Auswertung wird der Kontakt zu den Hochschulen vor Ort gesucht, um eine wissenschaftliche Bewertung der Erfolge zu ermöglichen.
Diese Konzeption wird laufend überprüft und gegebenenfalls angepasst.

 

Quellen
Busch-Geertsema, Volker (2017): Housing First - Innovativer Ansatz, gängige Praxis oder schöne Illusion; in Wohnungslos, 1/2017 
Busch-Geertsema, Volker (2013): Housing First Europe - Final Report (Bremen / Brüssel) 
Gerull, Susanne / Merckens, Manfred (2012): Erfolgskriterien in der Hilfe für Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten (Uckerland) 
Gladwell, Malcolm (2006): Million-Dollar Murray; in The New Yorker, 13.02.2006 
Parnitzke, Anna-Maria (2016): Wohnraum für Wohnungslose - Ist Housing First die Antwort? (Berlin) 
Pleace, Nicholas (2016): Housing First Guide Europe (York) 
SenGesSoz (1999): „Leitlinien und Maßnahmen- bzw. Handlungsplan der Wohnungslosenhilfe und -politik in Berlin“; Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 13/4095 vom 10.09.1999 
Tsemberis, Sam (2010): Housing First: The Pathways Model to End Homelessness for People with Mental Illness and Addiction (Minnesota)

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